
ThyssenKrupp zerlegt sich selbst – Strategie oder letzter Ausweg?
Thyssenkrupp, vor langer Zeit Flaggschiff der deutschen Industrie, steht mitten in einem radikalen Umbau. CEO Miguel Ángel López Borrego treibt die Abkehr vom alten Konglomeratmodell voran: Statt schwerfälliger Zentralstrukturen sollen autonome Geschäftsbereiche mit eigener Kapitalmarktlogik entstehen.
Nach dem Börsengang der Wasserstofftochter Nucera 2023 sind nun auch die Marinesparte TKMS (ThyssenKrupp Marine Systems) und der Stahlbereich im Fokus. Ziel ist eine flexible, dynamische Holding – mit klaren Verantwortlichkeiten, externem Kapital und Wachstumspotenzial. Doch der Weg dahin ist steinig.
Einigung mit der IG Metall
Im Stahlbereich wurde nun ein zentraler Schritt gemacht: Bei TKSE (ThyssenKrupp Steel Europe) einigte sich der Konzern mit der IG Metall auf ein Sanierungspaket. Es umfasst kürzere Arbeitszeiten, gestrichene Sonderzahlungen und Werksschließungen – bis zu 11.000 Stellen könnten betroffen sein. Die Einigung ist an eine Finanzierungslösung gebunden und soll den Einstieg des tschechischen Investors Daniel Křetínský vorbereiten. Die Gewerkschaft stimmt zu – zähneknirschend. Es bleibt ungewiss, ob das langfristig die Sparte stabilisieren kann. Aber im Falle eines 100-%-Verkaufes wäre das dann nicht mehr das Problem von ThyssenKrupp.
Das Geschäftsmodell
Der Konzern gliedert sich inzwischen in klar abgegrenzte Geschäftsbereiche – ein zentraler Schritt auf dem Weg zur Holdingstruktur. Die Grafik zeigt die Umsatzverteilung nach Segmenten, doch entscheidend ist: Hinter jedem dieser Blöcke steht ein anderes Geschäftsmodell, mit eigenen Kunden, Märkten und Risiken.

- Materials Services
Der größte Bereich: weltweiter Werkstoffhandel und -logistik. Hier verkauft Thyssenkrupp Metalle, Kunststoffe und Dienstleistungen an Industrie, Bau, Maschinenbau – inklusive Lagerhaltung und digitalem Plattformgeschäft. - Steel Europe
Das klassische Stahlgeschäft – aktuell im Umbruch. TKSE produziert Flachstahl für Automobilindustrie, Maschinenbau und Haushaltsgeräte. Der Bereich kämpft mit Überkapazitäten, CO₂-Kosten und Investitionsbedarf in grüne Technologien. - Automotive Technology
Zuliefergeschäft für die Automobilindustrie: Fertigung von Fahrwerksmodulen, Lenksystemen, Dämpfern, Nockenwellen und Karosseriestrukturen. Der Bereich ist stark konjunkturabhängig und im Wandel durch Elektromobilität. - Decarbon Technologies
Noch jung, aber strategisch wichtig: Hier bündelt Thyssenkrupp Projekte zur CO₂-Reduktion – darunter Elektrolyseure (via Nucera), grüne Wasserstoffproduktion, Carbon-Capture-Technologien und Technologiedienstleistungen für industrielle Dekarbonisierung. - Marine Systems (TKMS)
Bau von U-Booten, Fregatten und maritimen Sicherheitssystemen. Ein hoch spezialisierter Bereich mit politischer Bedeutung – und Fokus auf langfristige, sicherheitsrelevante Aufträge. Aktuell Vorbereitung auf ein eigenständiges IPO.
Zahlen & Fakten
Börsenwert | 7,02 Mrd. EUR |
Mitarbeiter | 98.120 |
Hauptsitz | Essen & Duisburg |
Umsatz, Gewinn & EPS
Thyssenkrupp bleibt operativ unter Druck. Umsatz, EBIT und Ergebnis je Aktie sind rückläufig, teils deutlich negativ. Auch im laufenden Jahr schreibt der Konzern rote Zahlen. Zwar erhofft sich das Management durch Umstrukturierungen und Kostensenkungen eine Trendwende, doch ein nachhaltiger Gewinn ist frühestens mittelfristig realistisch. Analysten bleiben zurückhaltend – der Konzern steht finanziell weiter auf wackligem Fundament.
Solvenzkennzahlen
Gesamtkapital | 28,85 |
Eigenkapital | 10,59 |
Gesamtverschuldung | 0,863 |
Liquide Mittel | 4,83 |
Trotz operativer Schwächen zeigt sich Thyssenkrupp bilanziell vergleichsweise stabil. Das Unternehmen verfügt über eine solide Eigenkapitalbasis und nur geringe Finanzverbindlichkeiten. Die Liquidität ist ausreichend, um kurzfristige Verpflichtungen zu decken. Die niedrige Verschuldung verschafft dem Konzern finanziellen Spielraum für den laufenden Umbau.
Bewertungskennzahlen
Thyssenkrupp wird aktuell deutlich unter Buchwert gehandelt – das Kurs-Buchwert-Verhältnis liegt unter 1. Zwar war das KBV vor ca. 2 Jahren noch deutlich niedriger, aber noch immer werden Risiken in der Bewertung eingepreist. Auch das Kurs-Umsatz-Verhältnis ist sehr niedrig, was auf eine günstige Bewertung gemessen am Umsatz hinweist. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis ist wegen der anhaltenden Verluste negativ oder nicht aussagekräftig. Insgesamt spiegelt die Bewertung weniger Vertrauen in kurzfristige Erholung als vielmehr spekulatives Potenzial bei erfolgreicher Restrukturierung.
Chancen & Risiken
Chancen
Thyssenkrupp könnte vom Umbau hin zu einer dezentralen Holdingstruktur erheblich profitieren. Die eigenständige Aufstellung der Geschäftsbereiche erhöht die Transparenz, macht gezielte Investitionen möglich und öffnet neue Wege an den Kapitalmarkt – wie bereits bei Nucera erfolgreich demonstriert. Insbesondere Zukunftsfelder wie Wasserstofftechnologie, Marine-Sicherheit und industrielle Dekarbonisierung bieten Potenzial für stabiles Wachstum, politische Unterstützung und technologische Führungspositionen. Auch die gesteigerte Effizienz durch klar abgegrenzte Verantwortlichkeiten kann die Profitabilität deutlich verbessern.
Risiken
Gleichzeitig bleibt der Konzern stark verwundbar. Der tiefgreifende Umbau birgt soziale Spannungen, politische Reibung und operative Unsicherheiten. Werksschließungen und Stellenabbau könnten zu langanhaltenden Konflikten mit Gewerkschaften führen. Zudem ist das Stahlgeschäft durch CO₂-Kosten, globale Überkapazitäten und konjunkturelle Schwankungen belastet. Die Erfolgsaussichten der geplanten Spin-offs hängen stark vom Kapitalmarktumfeld ab – und ein Börsengang von TKMS scheitert womöglich, falls politische Garantien nicht ausreichen. Auch der Ruf des Konzerns steht auf dem Spiel: Zwischen Zerschlagung und strategischer Neuausrichtung liegt ein schmaler Grat.
Chart

Im Februar setzte die Thyssenkrupp-Aktie zu einem massiven Aufwärtstrend an – Auslöser war ein bestätigter Großauftrag für U-Boote inklusive hoher Voranzahlung, was den Cashflow entlastete. Gleichzeitig kam Bewegung in die Abspaltungspläne von TKMS, was Fantasie beim Thema Rüstungsboom und IPO weckte. Der Markt sieht die Restrukturierung also bisher massiv positiv. Doch die Chancen wurden mit der starken Aufwärtsbewegung schon gut eingepreist.
Charttechnisch hat die Aktie den alten Widerstand bei rund 7,50 Euro aus dem Jahr 2021 deutlich überwunden und zur Unterstützung gemacht. Der Trend ist seitdem intakt, aktuell notiert der Kurs aber knapp unter einer alten Widerstandszone um 12 Euro, die bisher noch nicht überwunden wurde. Allerdings bieten auch sowohl der steigende 50er-SMA (gelbe Linie), als auch eine Trendlinie der letzten Hochs kleine Unterstützungen.
Fazit
Thyssenkrupp steht vor einer grundlegenden Neuordnung – weg vom schwerfälligen Industriekoloss, hin zur flexiblen Beteiligungsholding mit Fokus auf Zukunftsmärkte. Die Weichen sind gestellt, die Aufspaltung schreitet voran, zentrale Geschäftsbereiche werden neu positioniert, politische Rückendeckung ist vorhanden. Doch die Umsetzung bleibt riskant: Operativ schreibt der Konzern weiter Verluste, die Bilanz bietet zwar Stabilität, aber keine Garantie. Die Aktie preist aktuell mehr Hoffnung als Realität ein – der Umbau könnte sich lohnen, muss aber erst noch gelingen.
Offenlegung wegen möglicher Interessenkonflikte
Der Autor ist im besprochenen Wertpapier bzw. Basiswert zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Analyse nicht investiert.
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